Kritische Blicke auf die Gegenwart

Frau Galinowa

Wenn Frau Galinowa nach Hause gekommen war, konnte man es im Treppenhaus riechen. Denn egal wo sie war, hinterließ sie ihre Ausdünstungen. Ihre Anwesenheit verwandelte jeden Ort in das geruchliche Ebenbild einer Raucherkneipe. Frau Galinowa war schwere Raucherin. Da gab es nichts schönzureden. Ich glaube, sie war ungefähr 60 Jahre alt. Vielleicht auch jünger, genau konnte man das nicht sagen. Der Zigarettenkonsum hatte ihr Gesicht fahl und faltig werden lassen und ihre dunklen Haare hingen leicht verschwitzt über ihre bleichen Wangen, wenn sie sich auf den Treppenabsatz setzte, um zu verschnaufen. Das machte sie immer, wenn sie die Stufen zu ihrer Wohnung erklomm. Einen Aufzug gab es nicht und ihre Lungen waren vom jahrelangen Rauchen stark geschädigt. Ihr blieb also keine Wahl. Manchmal, wenn ich aus dem Haus ging, traf ich sie sitzend und schnaufend auf dem Treppenabsatz. Dann hielt ich die Luft an und ging schnell an ihr vorbei. Ich versuchte freundlich zu grüßen, was aber nicht einfach war, wenn man die Luft anhielt. Der Gestank war einfach nicht auszuhalten und stieß mich zutiefst ab. Aber ich hatte auch Mitleid mit ihr. Sie erinnerte mich an die grauen Herren aus „Momo“, die immer Zigarre rauchen und davon ganz und gar grau geworden sind, nur dass natürlich von Frau Galinowa keine Gefahr ausging.

Manchmal traf ich sie auch auf dem Gehweg vor dem Haus. Dann saß sie auf der Mauer am Vorgarten und verschnaufte dort neben ihren Einkäufen. Es ist eigentlich unvorstellbar, aber selbst auf der Straße konnte man sie schon riechen, bevor man sie sah. Es war als hätte sich der kalte Rauch ihrer Existenz in die Luft gebrannt, um noch mehrere Minuten nach ihrem Weggehen den nachfolgenden Passanten ihre zuvorige Anwesenheit aufzuzeigen. Bis auf schnappatmige Grußformeln tauschten wir keine Worte aus. Es wäre ihren Lungen und meiner Nase wahrscheinlich auch nicht gut bekommen.

Irgendwann roch das Treppenhaus nur noch nach Treppenhaus und auf dem Klingelschild fehlte ihr Name. Sie war vor kurzem gestorben, erzählte mir ihr Nachbar, der mir meine Verwunderung scheinbar angesehen hatte – Lungenkarzinom. Meine Überraschung hielt sich in Grenzen. Erst in diesem Moment merkte ich, dass ich Frau Galinowa nie habe rauchen sehen. Ich setzte mich ans Fenster und zündete mir eine Zigarette an. Möge sie in Frieden ruhen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert