Im Westen verlassen wir das Land der Khmer über den Grenzübergang in der Stadt Poi Pet. Im Niemandsland zwischen Kambodscha und Thailand steht hier ein Haufen Hochhäuser mit Casinos und Bordellen darin. Ein englischer Tourist verlässt unseren Bus vorzeitig und fährt gar nicht mehr mit nach Bangkok. Poi Pet sei ein Geheimtipp „for those who dare“, ruft er uns beim Aussteigen zu.
Während uns die Kambodschaner mit ruhiger, freundlicher Effizienz haben ausreisen lassen, erwartet uns vor den thailändischen Grenzbeamten eine zweistündige Menschenschlange. Kurz überlegen wir umzukehren. Vielleicht war der englische Tourist etwas auf der Spur. Nur gemächlich trottet die Menschenschlange voran. Dafür gibt es einiges zu beobachten.
Ein dicker, älterer Thai trägt eine vollgoldene iced-out-Armbanduhr mit Brilliantlünette. Auf dem Ziffernblatt ist der thailändische König Rama X. in einer Marineuniform abgebildet. Der Mann hat sehr lange und dreckige Fingernägel, vor denen ich mich ein bisschen ekele und trägt am kleinen Finger seiner rechten Hand einen zur Uhr passenden iced-out-Siegelring. Über die rote Kordel, die die Menschenschlange zu den Grenzbeamten leitet, lächelt er mich sanftmütig an. Über die Kordel hinweg führen eine Unterhaltung mit Handzeichen und Blicken. Auch er scheint sichtlich genervt von dem schlecht organisierten Grenzübergang und gibt mir zu verstehen, dass weite Teile der öffentlichen Verwaltung seit dem Thornwechsel von König Bhumibol zu Rama X. deutlich abgebaut haben und diese Schlangen überall im Land länger werden. Er scheint öfter her zu kommen. Vielleicht ein windiger Geschäftsmann, der gelegentlich im Niemandsland Geschäfte im Graubereich der Legalität abwickelt?
Der Grenzübergang von Poi Pet war lange Zeit das wirtschaftliche Zentrum der untergetauchten Roten Khmer. Nach der Befreiung von Phnom Penh im Januar 1979 zogen sich Pol Pot und seine Schergen in die bergige Grenzregion zwischen Thailand und Kambodscha zurück. Sie verübten in den folgenden Jahren immer wieder blutige Terroranschläge in Battambang oder in Siem Reap. Noch Mitte der Neunzigerjahre wurden zwei amerikanische Touristen auf dem Weg zur Küste aus einem Zug in den Dschungel gezerrt und exekutiert. Finanziert wurden diese Guerilla-Attentate zum Teil aus China und gerüchtweise eine Zeit lang sogar aus den USA. Aber all das Blutgeld reichte nie aus und so schossen die Roten Khmer gelegentlich einen der seltenen weißen Tiger und plünderten die archäologischen Stätten. Noch immer ist das Kultusministerium mit der Restitution von tausenden Statuen, Reliefs und teilweise sogar ganzen Khmer-Tempeln beschäftigt. Ein britischer Kunsthändler, der sich in der Welt der Auktionshäuser einen Namen als „Mann fürs Grobe“ gemacht hatte, verteilte Sie überall auf der Welt und macht deshalb dem Kultusministerium bis heute das Leben schwer. Sogar Christie´s und Sotherby´s in London konnten seinem Angebot an antiker südostasiatischer Kunst lange nicht widerstehen und hatten in den Neunzigerjahren mehrere Artefakte aus Douglas Latchfords Sammlung in ihren Katalogen. Gekauft hat Latchford all die gestohlenen Antiquitäten in den Hinterhöfen von Poi Pet, wo sie thailändische Geschäftsmänner für die Roten Khmer verhökerten. Ein bisschen sieht der nette alte Mann hier aus, als hätte er schon einmal einen Drink genommen mit Latchford in einem der vielen Casinos, die diese staubige Straße säumen. Unsere Schlange rückt nun schlagartig vor und der alte Mann verabschiedet sich mit einer respektvollen Verbeugung. Das zu lange Armband seiner Uhr klimpert.
Etwa zwei Reihen vor mir steht eine Deutsche Frau. Sie ist vielleicht Mitte Fünfzig, ihr Gesicht ist stark geschminkt und sie hat gemachte Brüste. In ihrer rechten Hand trägt sie einen Jutebeutel mit der Aufschrift „Keep Gran Canaria plastic free“. In der linken Hand hält sie eine doppelt ausgeschlagene Plastiktüte, in der in Schaumstoffschalen verpacktes Essen verstaut ist. Es riecht ein wenig nach Frittenfett. Von der rechten Schläfe der Frau hängt eine Dreadlocksträhne herab, die mindestens genauso fettig aussieht, wie ihr Snack riecht. Als ich genauer hinsehe, muss ich feststellen, dass sich der Zopf von der Schläfe bis ganz in die Tüte hinabschlängelt. Vielleicht liegen ihre Extensions in diesem Moment in frittiertem Fast Food. Ich wende mich angewidert ab. Diese Frau hat sich seit Jahren keine Fragen mehr gestellt. Sie hat sich sicher ganz einer romantisierten Vorstellung vom alternativen Leben als Traveller, Globetrotter oder Backpacker hingegeben. Ich muss sofort an Donald Trump denken, der auf einer seiner Rallies in der Wüste von New Mexico einmal den Herkunftsländern der vielen südamerikanischen Einwanderer vorwarf: „They´re not sending thier best people!“ Keine Ahnung, ob er recht hat. Jedenfalls schicken wir ganz offensichtlich nicht unsere besten Leute nach Südostasien.
Neben mir kaut jetzt ein sehr braun gebrannter Australier hastig Kaugummi. Er sieht aus, wie es bei Kracht einmal heißt, wie nur Australier aussehen können: kerngesund. Allerdings kaut der kerngesunde Australier sein Kaugummi so hastig, dass er mich an ein Rennpferd erinnert, dass nach einem erfolgreichen Rennen in Ascot einen Apfel von seinem Jockey gefüttert bekommt. Gierig arbeitet sich die deutlich zu stark ausgeprägte Kiefermuskulatur an dem Kaugummi ab. Er sieht wirklich aus, als wäre er gerade um sein Leben oder zumindest um den Commonwealth Cup gerannt. Die Stirn des Australiers ist von Schweißperlen bedeckt, dabei ist der Innenraum dieser Grenzstation klimatisiert und er sieht nicht aus, als läge er mehr als 500g von seinem Idealgewicht entfernt. Er versucht sichtlich cool zu bleiben und seine schneeweißen Zähne blenden mich beinahe als er mich angrinst. Irgendwie dämlich sieht er aus. Bald ist seine Frisur ganz verschwitzt. Ist er noch drauf? Oder vielleicht hat er sich einige dieser kleinen Ballons mit Koks in den Arsch gesteckt?
Etwas weiter entfernt steht ein Transmann mit einem feinen Pflaum am Kinn und trägt ein T-Shirt der Firma Dickies. Er ist sicher Mitte oder Ende Zwanzig, sieht aber aus wie ein durchschnittlicher Neuntklässler. Seine Freundin hält seine Hand. Sie hat sehr viele Tattoos, noch mehr Piercings und trägt einen Techno-Bobschnitt, der über der Stirn gerade abgeschnitten ist. Ihre Haare sind oben braun und unten blond gefärbt. Die Frisur erinnert mich sofort an einen Pudding der Firma Dr. Oetker, der mit der freundlichen Kuh Paula beworben wird und den ich als Kind sehr gerne gegessen habe. Irgendwie habe ich Hunger. Das Paar, dass hier alle Grenzen heteronormativer Rollenbilder sprengt, küsst sich viel und wirkt sehr verliebt. Während der Transmann dabei ein bisschen nervös wirkt, scheint sie sich noch nie wohler gefühlt zu haben. Unmittelbar vor den Grenzbeamten kneift sie ihrem Freund noch einmal in den Po, streckt die Zunge heraus und schlackert ein bisschen damit. Auch diese ist gepierced. Natürlich. Ob sie insgeheim hofft, von der obrigkeitshörigen Thai-Monarchie einkassiert zu werden, um endlich in den Hungerstreik gehen zu können? Die Grenzbeamtin tun ihr diesen Gefallen jedenfalls nicht. Als die beiden dran sind gibt es eine kurze Verwirrung mit dem Namen des Transmannes. Eine Dolmetscherin wird herbeigerufen und nach einer Minute stempelt ein anderer Grenzbeamter gelangweilt beide Pässe.
Jetzt sind auch wir an der Reihe und das Ereignis, auf das wir nun bald zwei Stunden gewartet haben, dauert nur wenige Sekunden. Stempel, Stempel, gelangweilter Blick vom Pass ins Gesicht, Stempel, Stempel. Willkommen in Thailand.
Hinter den Grenzbeamten sitzt ein sehr dicker Mann unter einem grünen Schild mit der Aufschrift „Customs“. Sein Anblick erinnert unweigerlich an Buddha. Er döst unter einem riesigen kreisenden Ventilator und sein Kopf kippt immer wieder auf seine Brust. Alle paar Sekunden stößt er ein leises Säuseln aus, dass einem Grunzen ähnlicher ist als einem Schnarchen. Wir gehen durch den offenen grünen Ausgang an ihm vorbei. „Nothing to delcare.“ Auf dem großen Parkplatz dahinter steht der schwitzende Australier und grinst mich noch ein bisschen blendender an. Er scheint sehr erleichtert zu sein über die doch eher nachlässige Kontrolle des thailändischen Zolls und läuft nun hastig auf ein Toilettenhäuschen zu. Es scheinen also doch die Ballons gewesen zu sein.
Auf diesem östlichsten Parkplatz des Königreichs Thailand grüßt uns das Porträt des aktuellen Monarchen. Rama X. ist eingefasst in einer übergroßen, vergoldeten Pagode. Das Porträt ist exakt das gleiche, dass auf dem Zifferblatt der goldenen iced-out-Uhr meines Gebärdengesprächspartners von vorhin zu sehen war. Ich muss schmunzeln, denn der gleiche König, der hier in voller royaler Pracht die Grenzgänger in seinem Königreich begrüßt, hat sich am Starnberger See bauchfrei von einem Bild-Leserreporter fotografieren lassen. Im EDEKA. Diese Fotos sind in Thailand wahrscheinlich verboten. Schade eigentlich.
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