Kritische Blicke auf die Gegenwart

Oberflächenspannung

Auf Gleis 2 rollt der RE 1 nach Hamm (Westf.) ein. Der Zug ist 42 Minuten verspätet. Es ist 00:33 Uhr. Der Pulk auf dem Bahnsteig atmet in der stickigen Abendluft dieser heißen Sommernacht merklich auf. Erleichtert drücke ich meine Zigarette an einem der Mülleimer auf dem Bahnsteig aus und besteige den Zug. Mit mir quillt eine dichte Menschenmasse in den rot- weißen Waggon der DB Regio. Die Luft im Zug ist deutlich kühler als die auf dem Bahnsteig, doch richtige Erfrischung kann auch sie nicht bieten. Dafür riecht es zu sehr nach Mensch. Ich finde in der oberen Etage einen freien Vierer für mich allein. Thank God. Die Fahrt nach Köln- Ehrenfeld dauert 45 Minuten. Ich kenne jede Station.

In dem Vierer neben mir nehmen zwei Girls Platz. Sie sind Achtzehn, vielleicht Neunzehn. Eine ist blond, die andere brünett. Beide haben einen extrem kurzen Minirock aus schwarzem Kunstleder an und tragen dazu das gleiche Stück Plastik als Top. Darüber den gleichen beigen Trenchcoat, dazu hohe Stiefel. Ihre Haare sind bis zur Unkenntlichkeit geglättet und unterhalb der Brust sehr gerade abgeschnitten. Sie haben Gelnägel. Fast könnte man sie für Zwillinge halten, denke ich für einen Moment. Doch richtige, ich meine eineiige, Zwillinge würden ihre Ähnlichkeit, ihre Eineiigkeit, niemals auch noch mit Kleidung unterstreichen. Das haben die ja gar nicht nötig.

Nachdem die beiden sich in die Sitze haben fallen lassen, fährt der Zug an und ich stecke mir meine AirPods in die Ohren. Sie sind nicht geladen, aber auch so dienen Sie mir als Tarnung. Ich lausche dem Gespräch der beiden Girls inkognito. Die Brünette deckt mit dem dünnen Mantel nun ihre Beine zu und schüttelt sich. „Ist dir kalt, oder was?“ fragt ihre blonde Freundin. Die Brünette nickt und klappert ein bisschen mit den Zähnen. Die Blonde rollt mit den Augen. Beide sind so leicht bekleidet, dass ich die Kälte der Brünetten auf Anhieb nachvollziehen kann. Ich trage weiße Jeans und ein hellblaues Hemd. Klimaanlagenbedingt freue ich mich jetzt aber doch sehr über den dunkelblauen Kaschmirpullover, den ich meinem Beutel entnehmen kann.

Den Beutel habe ich vor ein paar Wochen bei der Reisebuchhandlung Daunt’s Books auf der Marylebone High Street in London gekauft. Er ist grün und das Logo der Buchhandlung ist mittig aufgedruckt, umrahmt von zwei aufgesetzten, weißen Henkeln aus angenehm schwerer Baumwolle. Dafür, dass ich quasi Werbung mit mir herumtrage, war der Preis von 25 Pfund völlig unangemessen, doch das spielt keine Rolle. In meiner bubble trägt keiner mehr Markenkleidung, sondern alle shoppen alles eigentlich immer vintage. Da sind die Jutebeutel der avantgardistischsten Buchhandlungen europäischer Metropolen der letzte Flex. Mit dem Kauf eines dieser Beutel stellt man gleichzeitig die eigene Belesenheit und Reisetätigkeit unter Beweis. Man weiß einfach, wo genau in London, Paris oder New York James Joyce seinen ersten Roman Ulysses verlegt oder wo Fitzgerald am liebsten signiert hat. An diesen Orten kauft man dann für 25 Pfund einen Jutebeutel. Zum Beweis sozusagen. Den Beutel von Shakespeare & Company aus Paris hat in Köln mittlerweile jeder Dritte. Ich auch. Meinen grünen aus London habe ich bisher nur einmal gesehen an der Uni. Das war mein schlimmster Tag im August. Eigentlich finde ich dieses Theater recht erbärmlich. Ich spiele trotzdem mit. Manchmal würde ich lieber wieder Polo Ralph Lauren oder Ami tragen, das war irgendwie einfacher.

„Ähm, entschuldigen Sie bitte, aber hier drinne is voll kalt oder? Die Klima ballert voll bös, oder?“ Das war an mich gerichtet, da gibt es keinen Zweifel. Meine AirPod-Tarnung ist aufgeflogen. Ich schaue die Brünette an und nehme einen Kopfhörer aus dem Ohr. Noch bevor ich zu einer Antwort ansetzen kann, schreitet die Blonde ein. Sie herrscht ihre Freundin an: „Boah, Junge was laberst du den an!? Guck doch ma! Voll der Schlaue. Da voll mit Brille und so.“ Dann zu mir: „Entschuldigung bitte.“ Es gibt nichts zu entschuldigen. Alles hieran ist herrlich. Alles hieran ist ehrlich.

Diesen Girls scheint mein Beutel ganz egal zu sein. Ich stimme der Brünetten zu. Beide lächeln mich an. Ich lächele zurück. Zusammen führen wir ein kleines Dramolett auf. Es spielt zwischen dem ehrlichen, netten, zwischenmenschlichen Moment im Zug und der awkwardesten silence, den der Regionalverkehr in Nordrhein-Westfalen je erlebt hat. Ich stecke mir meinen AirPod wieder ins Ohr und hole aus dem Beutel demonstrativ mein Buch hervor. Rohstoff von Jörg Fauser. Ob meine Tarnung jetzt noch eine Wirkung hat, weiß ich nicht, mir ist es auch egal. Die Girls unterhalten sich jetzt über die richtige Sitzhaltung für den Rücken und führen sich dabei gegenseitig Positiv- und Negativbeispiele vor. Ich verstecke ein Schmunzeln hinter dem aufgeschlagenen Einband von Diogenes. Vorne ist ein Polaroid abgedruckt, auf dem die Beine einer Frau mit pinken Pumps zu sehen sind.

Am nächsten Bahnhof steigen zwei Beamte der Bundespolizei zu. Grenznahe Personenkontrolle. Zügig schreiten die Polizisten mit schusssicheren Westen durch unser Abteil. Ich erkenne den einen. Er wirbt am Hauptbahnhof als Model auf einem Plakat für eine Karriere bei der Bundespolizei. Er hat sehr ausgeprägte Wangenknochen und einen Dreitagebart, der ein bisschen zu gepflegt aussieht. Vielleicht irre ich mich aber auch. Ich ziehe meinen Personalausweis aus blindem Gehorsam und antrainiertem Respekt vor der Polizei hektisch hervor. Alman eben. Weder das potentielle Model noch sein weniger gutaussehender Kollege wollen ihn sehen. Schade eigentlich. Vielleicht wäre ja was daraus geworden.

Eine Reihe hinter den Girls und mir kommen die Beamten zum Stehen. Eine Gruppe von Assis hat es sich hinter uns gemütlich gemacht. Sie pöbeln ein bisschen und hören Handymusik auf Zimmerlautstärke. Alle haben Ganzkörperjogginganzüge der Firma Gucci an. Alle in unterschiedlichen Farben. Ich frage mich kurz, ob Gucci überhaupt Jogginganzüge in so vielen Farben produziert. Noch bevor ich mir weitergehende Gedanken über die Herkunft der Anzüge oder ihrer Träger machen kann, wird die Wohnzimmeratmosphäre der Gruppe jäh durchbrochen.

Der Modelpolizist will den Ausweis eines der Assis sehen, aber es stellt sich heraus, dass keiner der acht einen dabeihat. Der andere Polizist hat genug. Er pickt sich einen der Jungs, die alle nicht älter als zwanzig sein können, heraus und will ihn durchsuchen. Dabei wählt er sich den einzigen aus der Gruppe aus, den man deutsch lesen kann. Sehr gut. Racial profiling ausgedribbelt. Rechte Netzwerke durchbrochen. Vertrauen in die Polizei wiederhergestellt.

„Haben Sie Waffen, Drogen oder andere gefährliche Gegenstände dabei?“ Der Polizist zieht sich weiße Latexhandschuhe an. „Äh, ne.“ Der Junge schaut den weniger gutaussehenden Bundespolizisten mit einem angestrengt lässig wirkenden Grinsen an. Vielleicht will er den anderen beweisen, wie egal ihm diese hoheitliche Maßnahme ist. Der Polizist durchsucht den Auserwählten. Als er ihm nahe dem Schritt in die Hosentaschen greift, schreckt dieser kurz hoch, fängt sich aber schnell wieder und stößt nur ein „Bruder!“ aus. Der Bundespolizist runzelt die Stirn. Er findet nichts. Die Beamten ziehen ab. Sie werfen den Assis noch vom Ende des Abteils einen strengen Blick zu. Die Jungs machen die Handymusik erst wieder an, als die Staatsmacht schon im nächsten Waggon steht. Trotzdem ist jetzt die Rede von Rebellion.

Plötzlich steht ein junger Mann in meinem Vierer. Ich glaube, er ist Südamerikaner. Vielleicht macht er einen Austausch oder hat gerade angefangen zu studieren. Er ist siebzehn oder achtzehn, jedenfalls jünger als die Girls. Das fällt in diesem Alter besonders auf. Während er sein Gepäck verstaut, grinst er die Girls ziemlich vehement an. Die Brünette lächelt verhalten zurück. Die Blonde ist am Handy. In gebrochenem Englisch fragt er sie, ob er sich dazu setzen kann. Die Brünette erlaubt es ihm. Was nun folgt ist ein wahnsinnig unangenehmes mexican standoff der Augen. Wie passend. Während der Südamerikaner versucht, Blickkontakt herzustellen, um so vielleicht ein Gespräch beginnen zu können, versuchen die Girls, genau das zu verhindern. Ich schäme mich ein bisschen für ihn und kann ihn doch verstehen.

Es arbeitet in dem jungen Mann. Angestrengt sucht er nach den passenden Worten. Nach einem Gesprächsangebot. Er scheint innerlich daran zu scheitern, den Unterschied zwischen der stickig-heißen Sommernacht draußen und der unbarmherzigen Klimaanlage hier drin beschreiben zu können. Nur ein „Are you girls cold?“ kommt schließlich aus ihm heraus. Jetzt müssen die Girls antworten. Ihnen ist anzusehen, wie wenig Lust sie auf ein Gespräch mit dem Südamerikaner haben. Die Blonde antwortet schlicht: „No.“ Doch der Südamerikaner lässt sich nicht beirren. Jetzt ist das Eis gebrochen. Weiter mit dem nächsten Gesprächsangebot. “Where are you from? What do you do tonight?” So sparsam wie möglich erklärt die Brünette ihm, dass die beiden zu einem Freund nach Köln fahren, um dort ein bisschen abzuhängen. Eigentlich erklärt sie ihm aber nur, dass ihre Freundin und Sie dort ohne ihn abhängen werden.

Die Szene ist irgendwie grausam. Auch wenn ich mich nie so wirklich für Mädchen interessiert habe, erinnere ich mich ganz genau an die Erbarmungslosigkeit der Zurückweisung von Mädchen in diesen letzten Zügen der Adoleszenz. Die meisten jungen Frauen haben den Jungs in ihrem Alter früh etwas voraus und verständlicherweise keine Lust auf das männliche Angebot in ihren Klassen. Die Versuche spätpubertierender Jungs, sie von ihrem persönlichen Angebot zu überzeugen, zementiert diese Unlust meist. Einen solchen untauglichen Versuch unternimmt der Südamerikaner gerade.

Das Schweigen im Vierer nebenan lässt die Temperaturen im Abteil weiter fallen. Der Südamerikaner überlegt wieder angestrengt. Er entschließt sich zu einem letzten move. Zu einem ultimativen Fehler. Ansatzlos zieht er seine bordeauxrote Steppjacke aus. Die Jacke fällt mir erst jetzt auf. Draußen ist es auch nach Mitternacht deutlich zu warm für eine Steppjacke. Er legt die Jacke nun unaufgefordert der Blonden über die blanken Beine. Die ist davon so überrumpelt, dass sie zunächst nichts tun kann. Sie schaut die Brünette an, deren Mund ebenfalls offensteht. Für einen kurzen Moment scheint der Südamerikaner gewonnen zu haben. Sein Lächeln trägt die vage Hoffnung, dass diese überraschende Maßnahme ihn nun als Beschützer, vielleicht aber auch nur als nützlicher Gehilfe in der Gunst der Girls hat steigen lassen. Ihm wäre das alles egal. Hauptsache weiter im Rennen. Dabei sein ist alles. Vielleicht könnte er ja sogar mit abhängen bei dem Freund in Köln.

Alles hieran ist sehr falsch. Das weiß auch die Blonde und fängt sich wieder. „No. No. No! Ei äm not colt!“ Sie reißt sich die Steppjacke von den Beinen und pfeffert sie dem Südamerikaner entgegen. Die Brünette wehrt sich gegen einen weiteren möglichen Steppjacken-Angriff auf sie schon einmal prophylaktisch mit Hand- und Fußzeichen. Dem Südamerikaner steigen Tränen in die Augen. Er zieht die Steppjacke wieder an. Auch im Abteil ist es trotz Klimaanlage eigentlich zu warm dafür.

Das eisige, betretene Schweigen wird vom Zusteigen eines pöbelnden Russen durchbrochen. Er pöbelt wirklich sehr laut und sehr russisch. Der Mann ist wahrscheinlich jünger, doch sein fetter Körper und sein grobporiges, verquollenes Gesicht lassen ihn wie Mitte Fünfzig aussehen. Eine Wolke von kaltem Rauch, Alkohol und Schweiß begleitet ihn. Es riecht sofort nach 24-Stunden-Kneipe im Abteil. Der Russe lässt sich in einiger Entfernung zu uns auf einen der Sitze fallen. Der Waggon bebt. Er wird von drei Frauen begleitet, die nun auf Russisch versuchen, ihn zu beruhigen. Auch ohne ein Wort zu verstehen, wird klar, dass der Mann sehr aufgebracht und sehr betrunken ist. Die Beschwichtigungsversuche seiner Begleiterinnen zeigen keine Wirkung. Die Pöbeleien werden immer lauter.

Die Girls stecken sich teilnahmslos ihre Kopfhörer in die Ohren, der Südamerikaner ist noch mit sich selbst beschäftigt, doch das Spektakel am anderen Ende des Waggons scheint die Assis zu interessieren. Hinter mir steigt einer auf seinen Sitz und schaut über die Lehnen rüber zum Russen. Der eben noch kontrollierte Junge ist schon weiter und ergreift die Chance. Eine Chance zur Konfrontation. Jetzt kann er sich wieder beweisen. Er steht auf, geht durch den Gang und steht nun vor dem Russen. „Halt ́s Maul du Hurensohn.“ Ruhe im Abteil. Der Russe schaut ihn durch seinen Alkoholnebel ein bisschen verdutzt an, scheint aber nicht zu verstehen, was der Junge von ihm will. Er pöbelt erstmal weiter.

Eine der Frauen schaltet sich nun als Dolmetscherin ein und übersetzt dem Russen die Beleidigung. Sie scheint eine gute Dolmetscherin zu sein. Der Russe hat jetzt verstanden. Obwohl ich es nicht für möglich gehalten hatte, legt der Russe nun noch ein paar Dezibel drauf und beginnt als neue Variation zusätzlich mit Bierflaschen zu werfen. Die erste Flasche rutscht ihm aus der Hand und rollt nur träge in unsere Richtung. Doch er hat einen Vorrat angelegt in einer Tüte, die eine seiner Begleiterinnen auf dem Sitz neben ihm abgestellt hat. Die zweite Flasche geht schon eher in Richtung Assis. Sie trifft die Kopfstütze neben mir und zerschellt an dem kleinen Tisch in meinem Vierer. Ich fliehe.

Meine Flucht findet ein jähes Ende im nächsten Waggon. Mir ist bei der ganzen Aufregung gar nicht aufgefallen, wie dringend ich pissen muss. Aus der Toilettenkabine zwängen sich zwei Mittvierziger mit dicken Bäuchen und ich wundere mich kurz, wie um Himmels Willen diese beiden Männer in dem winzigen Toilettenabteil Platz gefunden haben sollen. Es erinnert ein bisschen an diese albernen Sketche, in denen sieben Clowns aus einem Mini steigen. Das Klo ist verstopft und ich gebe ihm mit dem Inhalt meiner Blase den Rest.

Schon als Kind hatte ich großen Spaß daran, ein Glas bis ganz zum Rand voll zu machen und zu beobachten, wie es wegen der Oberflächenspannung nicht überlief. In der Sendung „Wissen macht Ah“ im Kinderkanal wurde ein Experiment mit einer Büroklammer oder mit einem Cent- Stück vorgestellt, das von der Oberflächenspannung getragen wurde. Die Kinder konnten das dann zuhause nachmachen. Das Experiment ist hier allerdings nicht ganz möglich. Ich muss auf die Bewegung des Zuges achten, damit ich mir nicht meine weiße Hose versaue.

Mein natürlicher Würgereiz wird von einem angenehm schweren Zigarettenrauch in Schach gehalten. Eigentlich ist es wie in der Kneipe Zum Hecht am Bahnhof Charlottenburg in Berlin. Ich war Ende April mit einem Freund, der genauso heißt wie ich, dort. Zur Afterhour. Es ist eine der letzten Kneipen Berlins, die wirklich nie zumacht. Der Hecht hat an allen Tagen des Jahres geöffnet und an allen diesen Tagen hängt ein schwerer Nebel aus billigem Zigarettenrauch zwischen seinen grünen Wänden. Als wir gegen halb acht, bei strahlendem Sonnenschein, mit der S-Bahn von einem Techno-Club im Osten der Stadt nach Hause kamen, war es hier angenehm voll. Die Aschenbecher im Hecht sind sehr groß und werden nur selten geleert. Wir saßen dort und tranken die letzten Herrengedecke des Abends, oder die ersten des Morgens und unter unseren Barhockern wurde gewischt. Ich weiß nicht, ob dort um halb acht Uhr morgens üblicherweise gewischt wird. Ich glaube es war der Morgen des ersten Mai.

Als ich mir die Hände waschen will, weiß ich erst nicht womit. Zwar hat das Waschbecken einen mit Bewegungsmelder ausgestatteten Wasserhahn, doch die Seife ist nicht zu finden. Sie steckt in einer Art Raspel mit Drehmechanismus. Nach einigem Probieren finde ich heraus, wie die Vorrichtung funktioniert. Wenn man am unteren Ende dreht, fallen Seifenflocken aus der Vorrichtung. O.K. Das muss man wissen. Ich drehe an der Raspel und es fällt mir etwas in die Hand, dass dem Parmesan, der in kleinen Tüten den Fertignudeln von Miracoli beigelegt ist, verdächtig ähnlichsieht. Zwar sind diese Flocken völlig geruchlos, doch sie erinnern mich dann doch zu sehr an den beißenden Geruch von Erbrochenem, für den der „Parmesan“ bei diesen Fertignudeln bekannt ist. Ich trockne mir die Hände ab und verlasse die Toilettenkabine.

Draußen stehe ich in der Fankurve eines Fußballvereins. Der Waggon ist voll mit Männern in den Farben Schwarz, Weiß und Grün. Es scheint ein Fußballspiel gegeben zu haben. Irgendeine Mannschaft scheint gewonnen zu haben, jedenfalls wirken die schwarz-weiß-grünen Männer ausgelassen. Sie singen Fangesänge und manche springen an bestimmten Stellen. Ich denke es ist der Refrain. Ich versuche mir meinen Weg durch die Masse zu bahnen und reibe mich dabei ein bisschen an den Bäuchen der singenden Männer. Sie nehmen mich trotz der Berührung nicht wahr. Etwa in der Mitte des Waggons setzt der Refrain wieder ein und alle fangen an zu springen. Ich springe mit. Warum, weiß ich nicht genau. Neben mir rutscht einer der Männer beim gesprungenen Refrain aus. Er ist auf eine Bierdose gesprungen. Leider war die Dose noch voll und das Bier spritzt mir ins Gesicht. Ich wische mir das Bier aus den Augen und sehe den Mann vor mir auf dem Boden liegen. Er sieht aus wie der Käfer aus Kafkas Die Verwandlung. Hier im schwarz-weiß-grünen Trikot, aber genauso bewegungsunfähig. Es riecht jetzt sehr stark nach Schweiß, kaltem Rauch und Bier. Ich habe große Lust, eine Zigarette zu rauchen. Ich wäre gern auch betrunken. Ich nutze die Gelegenheit und steige schnell über die Bierpfütze und den vermeintlichen Gregor Samsa hinweg.

Als ich am anderen Ende der Fankurve angekommen bin, kommt der Zug plötzlich und scharf zum Stehen. Jetzt sind auch die Männer für einen kurzen Moment ruhig. Aus den Lautsprechern ertönt überraschenderweise eine menschliche Stimme. Es ist der Lokführer. „Unterlassen sie in jedem Fall das Rauchen in diesem Fahrzeug! Das Rauchen in diesem Fahrzeug ist streng verboten! Auch auf den Toiletten! Wir haben Glück gehabt, dass die Wassernebelanlage nicht angegangen ist. Ausnahmsweise kann unsere Fahrt heute doch noch weitergehen. Wenn es zu einem weiteren Vorfall auf den Toiletten kommt, muss ich die Polizei verständigen!“ Der Zug rollt wieder an. Die Fans jubeln. Sie jubeln als hätte ihre Mannschaft ein Tor in der Verlängerung irgendeines wichtigen Spiels geschossen. Ich gröle mit. Nicht aber aus sportlichem Eifer, sondern aus Widerstand gegen diese Spießer-Bahn. Einen Rauchdetektor und eine Sprinkleranlage auf der Toilette gibt ́s. Ist klar. Aber der Fahrgast arbeitet hier mit einer Handseifenraspelvorrichtung, wenn er sich die Hände waschen will. Ein bisschen ärgere ich mich jetzt, dass ich eben auf dem Klo nicht selbst noch eine geraucht habe. Irgendwie wäre es eine Art ziviler Ungehorsam gewesen.

Der Zug verliert langsam wieder an Geschwindigkeit. Das ist gut, denn ich muss am nächsten Bahnhof aussteigen. Ich stehe jetzt im Gang und halte mich an der Lehne eines Sitzes fest. Auf den Sitzen vor mir sitzt ein älteres Ehepaar. Die Dame hat schneeweiße Haare und trägt ein etwas aus der Mode gekommenes Cocktailkleid. Ihre Schuhe versuchen den Chic vergangener Jahre zu bewahren, sind aber ganz offensichtlich für ältere Damen, die nicht mehr auf Ledersohlen gehen können und sind deshalb leider trotzdem hässlich. Die Dame erinnert mich an meine Patentante. Der Mann neben ihr trägt eine Kombination aus Freizeitjackett und Schlips. Das Sakko könnte aus der Schurwolle der Firma Harris-Tweed sein. Gute Wahl. Stil kennt keine Temperaturen und in dem Alter ist einem bestimmt immer kalt. Außerdem hat der Mann kaum noch Haare und sieht ein bisschen aus wie eine Schildkröte.

Die beiden scheinen von einem Abend im Theater oder der Oper zurückzukommen, denn der Dame fällt ein Programmheft aus der Hand, als Sie ihrem Mann beim Aufstehen hilft. Das moderne Theaterstück in diesem Zug wollten die beiden vielleicht nicht unbedingt sehen, aber Kunst ist eben nicht immer gemütlich, denke ich. Ich bücke mich und reiche der Dame ihr Programmheft. Sie kann es kaum wieder an sich nehmen, ohne dass ihr Mann hinfällt. Er kann sich in dem fahrenden Zug trotz seines Stockes allein kaum auf den Beinen halten. Angsterfüllt schaut die ältere Dame mich an. Sie weiß nicht, wie ihr mit ihrem bewegungsunfähigen Ehemann die Flucht gelingen soll. Schweigend biete ich dem alten Mann meinen Arm an und er klammert sich sofort an mir fest, ohne mich anzusehen. Zu konzentriert ist er auf den nächsten Schritt. Die ältere Dame lächelt mich an und folgt uns aus dem Zug. Als wir auf dem Bahnsteig stehen, bedankt sie sich bei mir wie bei einem Heiligen. „Einen schönen Abend wünsche ich Ihnen. Gott schütze Sie!“ Ich zünde mir eine Zigarette an und beobachte die beiden, wie sie sich langsam in Richtung des Aufzugs bewegen. Vielleicht sind sie Vertriebene, die Ende des zweiten Weltkrieges über die zugefrorene Ostsee nach Westen flüchten mussten.

Naja, denke ich, zumindest ist ihnen auch die zweite Flucht gelungen. Diesmal eben nicht aus Ostpreußen, sondern aus der Fankurve irgendeines Fußballvereins.

Beim Hinabsteigen zu den Gleisen der U-Bahn liegen auf der Treppe zwei Müllsäcke. Die Säcke sind aufgerissen und der Müll ist über den Absatz, den die Treppe in der Mitte macht, verteilt. Kurz frage ich mich, ob ein wildes Tier hier in einer Orgie von Fresssucht oder Verzweiflung alles durchsucht hat, doch auch wenn im bayerischen Wald letztlich wieder Bären gesichtet wurden, kann ich mir eine so schnelle Ausbreitung nicht wirklich vorstellen. Ich steige über den verteilten, fast drapierten, Müll hinab zur U-Bahn und hoffe, dass keine Spritzen aus dem Sammelsurium hervorlugen. Ich trage die blau-weißen Espadrilles aus dem letzten Urlaub auf der Île de Ré und ich vertraue den gewobenen Sohlen mit der Gummibeschichtung nicht ganz. An die französische Atlantikküste sind wir mit dem TGV gefahren. Das war langweilig.

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